Ich muss zugeben: Das neue Buch von Gudrun Happich, „Was wirklich zählt„, lässt mich etwas unentschlossen zurück. Während ich vom Vorgänger-Buch „Ärmel hoch“ begeistert war, zögere ich hier mit einer eindeutigen Bewertung. Warum?
Erstens hat mich der Titel ein wenig in die Irre geführt. Unter „Was wirklich zählt“ hätte ich eher ein philosophisch angehauchtes Buch zur Persönlichkeitsentwicklung erwartet. Aber das hat mehr mit mir zu tun als mit Happichs Werk. Das Buch hätte auch heißen können „So coache ich“. Und das meine ich nicht abwertend. Happich schildert auf ca. 220 Seiten ihren individuellen Coaching-Ansatz für „Top-Führungskräfte und Leistungsträger“, von der initialen Fragestellung über das persönliche Commitment, den Findungsprozess der persönlichen, idealen beruflichen Position bis hin zur Strategie der Umsetzung und des Risikomanagements.
Das Buch ist durchweg solide geschrieben, klar gegliedert, verständlich und einfühlend. Happich schildert den Weg zur idealen Position anhand vier fiktiver Coaching-Klienten, die den Leser durch das ganze Buch begleiten. Ein Ansatz mit Charme; die Gefühle und Sätze der Personen sind jederzeit nachvollziehbar und glaubwürdig.
Happich sagt viel Wichtiges und Richtiges in ihrem Buch, zum Beispiel:
Im Kern sind es drei Dinge: erstens das Tun, also die richtige Aufgabe, zweitens die Wirkung, also die richtige Rolle, und drittens das richtige Umfeld. Alle drei Komponenten ergeben den richtigen Platz, der für jeden von uns individuell und einzigartig ist.
Oder:
Es ist ein Fehler, beim Thema Karriere und Erfüllung zuerst an Positionen zu denken und dann – wenn man die Stelle hat – zu versuchen, mit Aufgabe, Rolle und Umfeld zurechtzukommen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Alles gut und richtig. Servus drunter und ab damit.
Was irritiert mich dann an diesem Buch? Wahrscheinlich das, was zwischen den Zeilen steht, was nicht gesagt wird.
Zunächst einmal trägt das Buch den Malus fast der gesamten Coaching-Literatur: Die Methoden können noch so gut erklärt sein, die Verfahren noch so transparent, die Übungen noch so nachvollziehbar und einfach – dem blinden Fleck, dem jeder von uns unterliegt, kann man als Leser nicht entkommen. Daher ist ein solches Buch als „Do it yourself“ – Ratgeber nicht geeignet. Auch wenn das an einigen Stellen vorgeschlagen wird, nach dem Motto „Das machen Sie am besten so und so. Probieren Sie es einfach aus.“ In der Konsequenz – und das ist auch völlig legitim – dient das Buch im besten Fall als Akquise-Instrument für Coachings. Und warum auch nicht? Nur hätte ich mir eine solch offene Aussage auch gewünscht, von einer derart erfahrenen Coach. Dieser Punkt betrifft die Betriebsblindheit des Lesers, der er nicht entkommt, wie reflektiert er auch sein mag: Das Ziel, welches das Buch propagiert, die ideale berufliche Position, kann nur mit Hilfe eines Coachings erreicht werden.
Der zweite Punkt betrifft die Betriebsblindheit der Prozessdynamik. Happich zählt auf, wie ihre Klienten normalerweise der beruflichen Unzufriedenheit zu entkommen suchen: „Aufsteigen“, „Aussteigen“, „Wechseln“, „Besser werden“. Die langfristig tragfähige Strategie ist aber laut Happich eben das Erarbeiten der „idealen Position“. Nochmal: Als Psychologe und Coach finde ich den Ansatz von Happich sinnvoll. Nur fehlen mir als Lösungsmöglichkeiten einige Alternativen, die „Leistungsträgern“ und „Top-Führungskräften“ anscheinend nicht in den Sinn kommen, zum Beispiel Downsizing oder die eigene innere Einstellung zur aktuellen Lage zu ändern. Diese Anpassung bzw. eine Dynamik nach unten scheint bei dieser Zielgruppe angeblich oder tatsächlich keine Rolle zu spielen. Das ist für mich der blinde Fleck der Dynamik in diesem speziellen Coaching-Prozess.
Der dritte Punkt liegt im blinden Fleck der beruflichen Erfüllung. Immerhin geht es Happich, das betont sie immer wieder, um Karriere und Erfüllung. Das Buch suggeriert – jedenfalls nach meiner Interpretation -, dass Lebenserfüllung mit beruflicher Erfüllung gleichzusetzen ist. Und das ist in meinen Augen eine unzulässige Vereinfachung der Lebensrealität und atmet den Geist unseres Selbstoptimierungszeitalters. Vielleicht urteile ich hier zu hart, aber so empfinde ich es nun mal.
Und schließlich sollten Sie als potenzieller Leser „Top-Führungskraft“ oder „Leistungsträger“ sein bzw. sich dafür halten, damit Sie in die Zielgruppe des Buches fallen. Ich würde sagen: Wenn Sie ab 90.000 EUR jährlich verdienen, macht das Buch für Sie Sinn. Auch die vier Protagonisten fallen in dieses (und in höhere) Gehaltsraster: Mitglied der Geschäftsleitung einer Konzerntochter, Bereichsleiter eines IT-Unternehmens, Geschäftsführer einer Konzerntochter, Mitglied der Geschäftsleitung eines mittelständischen Maschinenbau-Unternehmens.
Fazit
„Was wirklich zählt“ ist ein Stück solider Coaching-Literatur: gut gegliedert, sprachlich in Ordnung, mit nachvollziehbarem theoretischem Hintergrund und einer vernünftigen Gliederung. Gut, aber nicht sehr gut. Außerdem: Die Lösung des propagierten Problems, nämlich eine „ideale berufliche Position“ zu finden, kann dieses Buch allein natürlich nicht einlösen. Das allerdings wäre auch von jedem anderen Buch zu viel verlangt.
0 Gedanken zu „Rezension: Gudrun Happich, Was wirklich zählt“
Hallo Herr Väth, mir geht es mit dem Buch ähnlich. Habe jedoch meine Bauchschmerzen angesprochen:
http://schlachte.wordpress.com/2014/01/28/buchbesprechung-was-wirklich-zahlt/
Nachvollziehbar? Was meinen Sie zu meinen Punkten?
Viele Grüße, CS